"Gesangslehre nach Herta Kalcher" 



„Unter Gesang versteht man den Lauf des Tons in der Form“ – Diese Definition für den menschlichen Gesang soll von den Alt-Italienern, den Begründern des „Bel Canto“, aufgestellt worden sein., und sie trifft in ihrer prägnanten Kürze den Nagel auf den Kopf. Unter dem Begriff der Form versteht man die Vokalform, die von der Zunge gebildet wird, also a,e,i,o,u. Die Funktion der Zunge ist sehr wichtig für den Gesang, denn sie artikuliert den Text und hält den Ton eben in der Form. Man kann vom Singen auch als gedehntem Sprechen auf erhöhter Basis reden, und man kann damit beginnen, indem man einen Liedertext deklamiert und allmählich in eine höhere Tonlage übergeht. So merkt man bald, dass die Zungenarbeit enorm wichtig ist für den Sänger. Wir haben es also beim Singen mit dem Wort und dem Ton zu tun; Träger des Worts ist die Zunge, Träger des Tons ist die Kehle.

Jede Arbeit braucht Muskelkraft, und zum Singen brauchen wir die Muskelkraft der Kehle und die der Zunge. Diese beiden Muskelgruppen müssen geschult und gestärkt werden. Wodurch? Durch Training. Wie ein Sportler muss auch der Sänger die Spannkraft der Kehl- und Zungenmuskulatur bewusst üben. Das kann man im täglichen Leben beim Sprechen machen, das setzt man bewusst beim Üben der Lieder und Arien fort. Jeder Säugling spannt seine kleine Kehle und bringt erstaunliche Tonkraft hervor. Manche Kinder erhalten sich diese Stimmkraft, andere verlieren sie durch falsche Erziehung, indem man sie tadelt, wenn sie laut rufen oder kräftig sprechen. Dann sind die Stimmen verhaucht und undeutlich. Rettet aber ein Kind die Kehlfunktion in ein höheres Alter, wird manchmal ein Sänger aus ihm, weil er „eine gute Röhre“ hat. Ein solch guter natürlicher Stimmsitz ist aber fast immer unbewusst vorhanden, d.h. der jugendliche Natursänger ist sich der Gesetze nicht bewusst, nach denen die Stimme funktionieren muss, und so kommt er mitunter in seinem Beruf in große Schwierigkeiten, weil er nicht gelernt hat, seine Stimmwerkzeuge wie ein Meister zu benutzen. Aber „Unkenntnis des Gesetzes schützt vor Strafe nicht“. Warum ist es nun so schwer, richtig, d.h. naturgesetzmäßig mit seiner Stimme umzugehen? Beim Spielen eines Instruments kann man viel vom Optischen her verbessern oder regulieren, beim Gesang nicht: Man sieht nichts, man hört es nur. Und was ist nun richtig, was falsch, was man hört? Nur das, was naturgesetzmäßig richtig ist, ist in Ordnung, ist auch gut klingend und schön. Vollkommen ist der Gesang nur dann, wenn die Kehle weder bedrückt noch hochgerissen wird, sondern wenn sie frei schwingend in der Tonsäule steht. Damit sie aber diese Funktion vollkommen erfüllen kann, muss sie in Ruhe gelassen werden durch eine vordere Führung, die die Zunge übernimmt. Nur wenn die Zunge das Steuer vollkommen übernommen hat, kann die Automatik der Kehle in Funktion treten. Jedes willkürliche Einmischen in die Kehlarbeit stört die natürliche Funktion der Kehle und beeinträchtigt die Schönheit und Sicherheit des Gesangs. Die Kehle arbeitet vollkommen, wenn sie in der Tonsäule steht; sie bleibt da, wo sie angewachsen ist, und wird unten von den Stimmbandschwingungen und oben von den reflektierten Stimmungen des weichen Gaumens gehalten. Der weiche Gaumen muss spannungslos sein, das Gaumensegel muss flattern, damit alle Ton-Schwingungen reflektiert werden können. Ist der weiche Gaumen verkrampft oder wird hochgerissen, so entbehrt der Ton jedes Vibratos, und der berüchtigte „Knödel“ ist da. Steht aber die Kehle im Gleichgewicht der Schwingungen – unten von den Stimmbandschwingungen, oben von den reflektierten Gaumenschwingungen gehalten – ist alles in Ordnung. Dann ist die Kehle „voll“, und der Volksmund sagt: Er singt aus voller Kehle…

Die Richtung der Tongebung sollte stets von oben nach unten gehen, auch königlicher Weg genannt – also niemals die Richtung beim Singen ändern. Niemals die Kehle hochreißen, dann wird sie eng und fest, und obendrein rutscht der Gaumen hoch, vermindert das Volumen, und es ergibt sich ein harter, knödelnder Ton. Dass wir die Kehlmuskulatur vor dem Singen anspannen und als Grundspannung beibehalten, hat nichts mit Beeinflussung der Kehlarbeit an sich zu tun, denn die Kehle richtet ihr Verhalten nach der Schwingungszahl ein, die wir auf der Zungentaste anschlagen.

Zur Produktion des Tons brauchen wir keine Luft. Darum ist es nutzlos, mit Atemübungen anzufangen. Von Hause aus hat der Mensch eine natürliche Atemfunktion, denn wir atmen, solange wir leben, auch im Schlaf, und die Atemfunktion ist unbewusst und natürlich. Das Zwerchfell ist der Muskel, der die Luft einnimmt und sie an die Lunge weitergibt. Falls durch Verkrampfung Fehler beim Atemholen vorhanden sind, also zu flaches Atmen, genügen die Erklärungen über die Tiefatmung des Zwerchfells meist sofort, um den Sänger zu entspannen.

Jeder Ton hat eine bestimmte Schwingungszahl und muss diese Zahl genau einhalten, wenn der Ton sauber sein soll. Die Stimmbänder setzen die Luft über den Stimmbändern in Schwingungen, diese heben den Kehldeckel, steigen bis zum Gaumensegel und werden von dort reflektiert. Dieser Vorgang spielt sich blitzartig schnell ab – schneller als man ihn schildern kann – und dieses Hin und Her zwischen Stimmbändern und Gaumen bildet die Tonsäule; diese hält die Kehle offen, verbraucht keine Luft, und es ist gleichgültig, welche Schwingungszahl sie hat, ob es ein hoher oder ein tiefer Ton ist. Diese Tonsäule ist tabu – sie darf nicht berührt oder gestört werden, z.B. durch ungeschicktes Sprechen oder Hineingreifen, denn dann ist sie lädiert, und die Luft entweicht. Ein Sänger, der beim Singen Luft verliert, ist unbrauchbar wie ein Auto oder ein Fahrrad, das Luft aus den Reifen verliert. Ein guter Sänger kann sehr lange Phrasen singen, ohne Luft zu verlieren. Um dieses zu erreichen, muss er eine nie versagende, nie nachlassende vordere Führung haben, die eben in der Zungenarbeit – Zungentasten-Anschlag - besteht.

Die Richtung der Tongebung von oben nach unten darf nie verändert werden, der erste Ton muss vom weichen Gaumen herabstürzen und bildet damit die Tonsäule – der Ton läuft, er steht also nicht. („Lauf des Tons in der Form ist Singen“.)

Um allen Anforderungen gerecht zu werden, muss der Sänger seine Stimmmuskulatur stärken und trainieren wie etwa ein Sportler. Die Grundspannung seiner Stimmwerkzeuge darf nie erlahmen. Wenn sie nämlich durch fehlendes Training erlahmen, können so genannte Ausgleichsmuskeln in Erscheinung treten, z.B. Muskeln des Halses,  und dann singt der Sänger nicht, sondern er schreit und forciert. Die Grundspannung seiner Gesangsmuskeln muss immer gleich sein, auch wenn er piano oder mezzoforte singt. Er denke nur z.B. an das Klavier: Seine Saiten habe immer die gleiche Spannung, auf der er eine Sonate, eine Etüde oder ein großes Konzert spielen kann. Dabei ist der Sänger in derselben Situation wie der Pianist: Auch dieser kann die Töne nicht machen, sondern nur anschlagen. Die Kehle arbeitet mit höchster Präzision, vorausgesetzt, sie wird nicht gestört – bedrückt oder hochgerissen. Allein die vordere Führung, der Anschlag des Tons – jedes Tons – gewährleistet die Automatik der Kehlarbeit. Auf diesen Führungspunkt muss der Sänger sein ganzes Augenmerk richten, wenn er gleich bleibend gute Leistungen erbringen will.

Da man vom Optischen her nichts angeben oder verbessern kann, ist man bei der Gesangsarbeit auf Vergleiche und Vorstellungen angewiesen. So kann man an den Helden Antheus der griechischen Sage denken, der nur dann ein Held war, wenn er auf dem Heimatboden stand, verließ er ihn, dann war er kraftlos. So ist es mit dem Gesangston: Verliert er die Verbindung mit dem Führungspunkt der Zunge, ist er kraftlos, verliert die Durchschlagskraft und Tragfähigkeit.

Denken wir an Ptolemäus, der ins Weltall hinausschaute und ausrief: Gebt mir einen festen Punkt, und ich will die Welt aus den Angeln heben. Ptolemäus fand ihn nicht, weil „alles fließt“, aber der Sänger kann und muss diesen „leading point“ auf der Zunge finden, dieser ist sein Steuer, das ihm Sicherheit gibt und der Kehle ihre vollautomatische Arbeit ermöglicht.

Singen ist etwas Natürliches und unterliegt den Naturgesetzen, aber es heißt:

„Wo die Natur aufhört, fängt der Unsinn an!“